Fische in Schwarz & in Weiß (Textprobe)

FISCHE IN SCHWARZ & IN WEISS

Er lernte wie besessen Gedichte auswendig. Er war wahllos dabei. Ob Bukowski, Bachmann oder Rilke, Hauptsache mindestens drei davon jeden Dienstag und jeden Donnerstag; um sich nach einer schlimmen Phase wieder zu stabilisieren, manchmal auch am Wochenende.
Er sagte laut einzelne Verse vor sich her, spürte die Anstrengung in seinen Gehirnwindungen, die angenehme innere Leere danach.
Alles ein Schutz vor dem drohenden Abgrund, der sich ihm immer wieder aufs Neue auftat, vor allem aber nach seinen Vereinigungsträumen von ihr, die noch im letzten Kuss symbolisierten, dass lange unmöglich Geglaubtes wieder möglich geworden war. Diese Träume verbrannten ihn, verbrannten nicht nur seine Finger, nein, es ging tiefer, in sein innerstes Wollen und Fühlen. Auf jeden Fall zu tief in ihn hinein.
Außerdem war es sowieso bereits zu spät. Und so kam er nicht mehr umhin, Woche für Woche an seine Gedichten festzuhalten.

An einem milden - für die Jahreszeit eindeutig zu warmen - Abend letzten Oktober:
Er sah ihr an, dass sie sich so gern noch einmal ausgetauscht hätte mit ihm, noch einmal eintauchen wollte in seine Welt, die sie faszinierte wie nichts Anderes, darin schwimmen wollte wie ein junger Fisch in klarem Gewässer, lebenshungrig und voll Zukunft. Er sah ihr ebenso an, dass ihr dies nicht mehr möglich war.
Da rezitierte er immer wieder aufs Neue Bukowski, Bachmann und Rilke, er hatte schon etwas Übung darin, und er sah ihr dabei nicht mehr in die Augen, sondern in die Ferne, in andere Länder, die mit dieser Welt nicht mehr viel gemeinsam hatten; er rezitierte stockend und trank dabei noch einen Wodka Orange.
Es war sowieso bereits zu spät, als er sich eingestand, dass sie immer mehr für ihn gewesen war als eine seiner Pornofantasien: Denn mit ihr war er am Ende unter Wasser geschwommen, ein mit reichhaltig Sauerstoff versorgtes Wasser, das seine und ihre noch jungen Kiemen erfreute. Das Festland, das mit dieser Welt nicht viel gemeinsam hatte, lockte mit seinen sattgrünen Ufern, doch das ließ sie beide völlig gleichgültig, denn das Unterwasserdasein war behaglich, und sie entbehrten nichts.

Am Nachmittag des nahenden milden - für die Jahreszeit eindeutig zu warmen - Abends letzten Oktober:
Er stand angewidert in der U-Bahn, in einer Nische gleich neben einer der Zugtüren, beobachtete das rege Ein- und Aussteigen, versuchte die Telefon- und sonstigen Gespräche, die ihn von allen Seiten belästigten, zu ignorieren, das Handygeläute ebenfalls auszublenden, ruhig zu bleiben. Er schwitzte stark. Mit einer fahrigen Handbewegung strich er sich die dünn gewordenen Haare aus der nassen Stirn, die paar grauen Strähnen, und er fuhr nervös mit der Zungenspitze über seine untere Zahnreihe, in der seit einiger Zeit zwei Eckzähne fehlten.
Er registrierte nicht nur den eigenen Verfall, sondern auch den Verfall der Welt, die ihn umgab: Die meisten Menschen waren ihm eine rohe, dumme Masse, die danach drängte durch den Fleischwolf der Unterhaltungsindustrie gedreht zu werden. Die meisten Menschen beleidigten seine Sinne, er wollte sie weder sehen noch hören und schon gar nicht riechen, schmecken oder spüren, und auch er selbst war in den letzten Jahren zu einer Beleidigung seiner strengen Ästhetik geworden.
Nur sie war noch wie früher für ihn, obwohl sie das Leben schon mehrmals hart angefasst hatte, denn das Kindliche in ihrem Blick, ihre alterslose Erscheinung und ihre anmutigen Bewegungen waren nach wie vor Teil ihres Wesens...