Das Kind in ihr (Textprobe)

DAS KIND IN IHR

Sie hatte ihr Kind verlassen. Es auf die Straße und in den gefrierenden Regen gestellt, doch sie wusste, dass er kommen würde um es zu holen. Sie wusste auch, dass er sich nun kümmern würde. Etwas tun würde, dessen sie nicht fähig schien.
Schon von Weitem sah sie seinen alten, schwarzen Ford heranrollen. Auch das Kind, das neben einer der wenigen Parklücken stand, erspähte ihn bereits und begann mit beiden Armen wild in der Luft zu fuchteln, hier bin ich, hier ist noch ein Parkplatz frei, ich warte schon auf dich!
Er stieg aus dem Auto und umarmte und küsste das vor Kälte blasse Kind zärtlich auf die Stirn. Daraufhin drückte das Mädchen das kleine und verzweifelte Gesicht in seine warme Daunenjacke und umklammerte seine langen und kräftigen Beine mit beiden Armen.
Sie, die Frau, stand scheinbar ungerührt auf dem grauen Gehsteig vis-a-vis, die Hände in den Taschen ihrer beigen Strickjacke vergraben, sah wie er das Kind auf die Rückbank setzte, sah wie das Mädchen mit Augen zu Schlitzen geformt für einen letzten Moment zu ihr hinübersah. Sie registrierte das flüchtige Kopfnicken mit welchem er sich von ihr, der Frau, verabschiedete um gleich darauf seinen Wagen zu starten.
Er parkte ruhig und sicher aus, sie sah seinen konzentrierten Blick, diesen Blick, der bereits ganz weit weg war von ihr. Sie beobachtete wie sich das Mädchen zu ihm nach vorne beugte und munter auf ihn einquasselte. Er lachte. Das Kind schmiegte seine Wange an die Rücklehne des Vordersitzes, war nun so nah wie in diesem Moment nur möglich bei ihm, und ein sanftes, glückliches Lächeln huschte über das noch zarte Antlitz mit den grauen Augen, mit diesen grauen, tiefliegenden Augen, die den seinen glichen.
Sie sah ihn davon fahren, sah dem schwarzen Wagen nach, dessen grelle Scheinwerfer sich durch die beginnende Dämmerung fraßen.
Sie ging zurück ins Haus, spürte dabei einen stechenden Schmerz in der Magengrube, einen Schmerz, den sie schon gewohnt war, den sie sich seit einiger Zeit zur Gewohnheit gemacht hatte, den sie geboren hatte anlässlich einer ohnmächtigen Wut.
Sie stand in der Küche und entkorkte eine Flasche Rosé, wohl wissend, dass dies nicht gerade die beste Therapie für ihren angeschlagenen Magen war.
Ihr schwindelte leicht als sie im Wohnzimmer anlangte, sie ließ sich auf die Couch fallen und trank in einem Zug ihr Weinglas leer. Rings um sie eine lähmende, eine beunruhigende Stille, der Lärm der Großstadt ausgesperrt dank ihrer nagelneuen Schallschutzfenster. Sie starrte auf die Bilder links und rechts des großen Bücherregals, das mit moderner und klassischer, mit deutsch- und fremdsprachiger Literatur bestückt war, und das an der gegenüberliegenden Wand wie ein Koloss aus dem Boden ragte; sie sah auf die Bilder, die er vor langer Zeit gemalt und ihr geschenkt hatte, die Aquarelle mit den düsteren Farben und den unruhigen Strichen. Diese Werke, die seine Schattenseite offenbarten, seine Schattenseite, über die er nie gesprochen, über die er sich stets geweigert hatte auch nur ein Wort zu verlieren...