Märzsonne (Leseprobe)

MÄRZSONNE

Wie jeden Morgen oder besser wie jeden späten Vormittag überflog Manuel als erstes die Onlineversionen der einen und der anderen Tageszeitung und die eingegangen Mails in seiner Mailbox. Die Nachrichten, die von einer Welt berichteten, die ihm zunehmend fremd wurde, die Mails, die sich selten an ihn persönlich richteten. Die Wetterprognose versprach immerhin sonnige Aussichten und Manuel wechselte zu YouTube. Er klickte sich durch ein paar Songs aus den 1970er Jahren, aus der Zeit, in der seine Eltern Teenager waren, "Dreamer" hörte er als einzigen ganz. Für ein paar Minuten nahmen ihm Supertramp das Unbehagen. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Da befand er sich schon mit Shirin in Istrien oder Dalmatien, auf jeden Fall am Weg zum Meer, in einem klapprigen VW-Bus mit heruntergekurbelten Fenstern, die Haare im Wind. Sie rollten die Straßen entlang, Straßen gesäumt von Pinien, die sich ins Blau des Himmels türmten, gleich darauf Straßen mit Blick auf Mohnfelder, Schafherden und Häuser aus Stein.
Supertramp verstummten und Manuel fuhr den Laptop herunter. Einen kurzen Moment blieb er noch vor dem schwarzen Bildschirm sitzen, dachte an ein sich im Sonnenlicht spiegelndes Meer, das Heimat für zahllose Fische war, und massierte sich die Schläfen. Sein Vater hatte es noch nie leiden können, wenn Manuel vor sich hin träumte, sein Vater musste immer etwas tun oder daran denken, was er tun musste. Er dürfte mich jetzt nicht sehen, nicht so sehen, dachte Manuel, als einen, der untätig herumsitzt und die Lieder hört, die er schon damals nie gehört hat, die auch die Mutter nie gehört hat, außer vielleicht einmal zufällig irgendwo.

Manuel schleppte sich in die Küche, schaltete den Wasserkocher ein und löffelte jede Menge Instantkaffee in die letzte noch saubere Tasse. Seit mehr als zwei Wochen freute er sich auf nichts mehr so richtig. Nicht einmal mehr auf die Abende, an denen Shirin zu Besuch kam oder an denen sie miteinander ausgingen. Noch nie zuvor war er so verliebt gewesen wie in die Kunststudentin mit den grünen Augen, die es verstand, die seinen für das Wesentliche zu öffnen. Nun war ein Schatten auch auf seine Liebe gefallen, ein Schatten, der ihm Angst machte. Weil er sich über nichts mehr so richtig freute. Am wenigsten über sein soeben abgeschlossenes Studium der Betriebswirtschaftslehre. Das ihm sein Vater finanziert hatte. Der zunehmend ungeduldige Vater, weil Manuel sich mehr Zeit gelassen hatte als notwendig. In den Augen des Vaters. Der Sohn würde sich am liebsten wieder am Anfang des Studiums sehen oder mittendrin. Am besten wäre es, wenn er überhaupt etwas ganz anderes studiert hätte, denn wenn er heute noch einmal begänne, würde er sich für ein oder zwei Gebiete aus dem Bereich der Geisteswissenschaften entscheiden. Immer weniger konnte er sich vorstellen, kommende Woche in die Firma einzusteigen, den Juniorchef zu mimen.

Die ungetragenen Laufschuhe des Vaters waren ihm eine halbe Nummer zu groß und scheuerten seine Fersen wund, doch Manuel lief weiter und immer weiter, an diesem überaus warmen und wolkenlosen Tag Ende März. Die Sträucher am Straßenrand und in den Gärten der Stadtrandsiedlung schimmerten in einem hellen Grün, die Forsythien unter ihnen leuchteten grellgelb, so wie der Löwenzahn in den Wiesen. Das Laufen half ihm, die Unruhe zu besänftigen, die Unruhe, die nach ihm schnappte wie ein wild gewordenes Tier, genährt von den kommenden Anforderungen, den realen und den befürchteten Zumutungen der künftigen Aufgabe, genährt von Manuels inneren und äußeren Konflikten sowie von denen in der Welt. Das Laufen war besser als sinnlos in der Wohnung auf und ab zu gehen, unfähig, sich zu irgendetwas zu entschließen. Unvorstellbar, derzeit ein Buch zu lesen, aufmerksam Musik zu hören oder sich mit sonst etwas eingehend zu beschäftigen. Er hatte keine Lust sich in etwas zu vertiefen, weil es ohnehin keinen Sinn machte. (...)

Auf der Parkbank vor einem umzäunten Kinderspielplatz lag ein junger Mann - seine Haare zottelig, die Kleidung zerschlissen - und schlief in der Nachmittagssonne. Unter der Bank kollerte eine leere Bierdose, angetrieben vom böigen Wind, der in Manuels Kleider fuhr und ihn kurz frösteln ließ. Der Schlafende machte den Eindruck, als ob es für ihn keinen anderen Platz gab als den in aller Öffentlichkeit. Ein privater Platz schien ihm abhanden gekommen zu sein. Manuel blieb stehen und sah auf den Mann, den er am liebsten an der Hand nehmen und in eine der leerstehenden Wohnungen führen wollte. In eine der Wohnungen, für die sein Vater gerade neue Mieter suchte. Sein Vater, der nur Leute mit Geld brauchen konnte. Leute, die eine Zukunft hatten, die Karriere gemacht oder diese so gut wie sicher vor sich hatten. Weil es ihnen nichts ausmacht, mitzuspielen, dachte Manuel. Es war nicht der erste Moment, in dem er sich den Vater ganz weit weg wünschte. Am besten auf einen anderen Planeten. Doch jetzt ging dieser Wunsch mit einer Übelkeit und einem Schwindel einher, als hätte er mehrere Dosen Bier hintereinander getrunken. Er fuhr sich mit den Händen über das Gesicht, senkte den Blick und verschränkte die Arme vor der Brust. Minutenlang stand er so in sich versunken da. Neben dem jungen Mann, der sich wie er vom Lärm des Kinderspielplatzes nicht stören ließ.
"Ist Ihnen nicht gut?", fragte eine Frauenstimme.
Manuel fuhr auf und blinzelte in ein rundes Gesicht mit getönter Brille und blassrosa geschminkten Lippen.
"Danke, es ist alles in Ordnung", stammelte er.
"Vielleicht haben Sie sich überanstrengt."
Er starrte ratlos auf die zu einem Lächeln gedehnten Lippen. Die Frau nahm die Brille ab und zeigte auf die Laufschuhe an seinen Füßen.
"Die waren teuer, nicht wahr."
Er lächelte kurz und aufgesetzt, zog den Zipp seiner Windjacke bis zum Kinn, atmete einmal tief durch, um sich gleich darauf zu verabschieden. Als er sich nach ein paar Metern noch einmal umdrehte, sah er, wie sie kopfschüttelnd zum Spielplatz ging. Ein Mädchen im Kindergartenalter lief ihr freudig schreiend und mit weit von sich gestreckten Armen entgegen. Der junge Mann auf der Parkbank schlief. (...)