Fieberwelten (Leseprobe)

Einen Platz suchen. Einen Ort.
Eine Heimatlosigkeit inmitten der eigenen Heimat empfinden.
Immerhin eine gewisse Geborgenheit unter den alten, Schnee bedeckten Buchen im Stadtpark. Noch eine Stunde Zeit bis Dienstbeginn. Laura inhaliert den blauen Rauch.
Das Bürogebäude aus Glas, Stahl und Beton wird zu einer immer größer werdenden Unvorstellbarkeit. Laura formt ovale Rauchkringel, die steigen langsam und lösen sich auf.
In die Sprachlosigkeit abdriften. Mühevolle Versuche sich wieder der Sprache zu bemächtigen, einzelne Sätze einem nahestehenden Menschen gegenüber zu formulieren.
Die eigene Befindlichkeit zu beschreiben versuchen, mit dem Gesagten nicht zufrieden sein, das Gefühl, nicht den Kern der Sache getroffen zu haben.
Laura tritt den Stummel in den schmutzigen Schnee.

Damals war die Sprache noch nicht so wichtig. Viel wichtiger war das Eintauchen in eine üppig grüne Seenlandschaft, das Besteigen eines Bergs und das Erforschen der Natur mittels altem, klapprigen Kinderfahrrad. Simone war immer schneller als ich, fuhr stets mit einem wilden Klingeln voraus, in dem Sommerparadies, in dem sich das Haus unseres Urgroßvaters befand.
Am Morgen lag bei Schönwetter ein leichter Dunst über dem kleinen Ort, darüber schon andeutungsweise erkennbar das Zartblau des Himmels. Urgroßvater war ein Frühaufsteher, er sah den Sonnenaufgang öfter als wir. Das Zwitschern der Vögel holte ihn regelmäßig aus seinem leichten Schlaf, ein Erbe aus seiner Zeit im Widerstand. Er kochte Malzkaffee für uns, wartete bis wir endlich aufgestanden waren, sah lächelnd in unsere verschlafenen Gesichter beim Frühstück und schmiedete Pläne für den anbrechenden Tag.

Abends leuchteten die Gipfel der angrenzenden Bergmassive manches Mal orangerot: Da stand ich auf einem der hölzernen Stege, die in den See hineinragten und sah Simone noch ein letztes Mal hineingehen in ein grünlich schimmerndes, klares Wasser, von dem sie nie genug bekam.

Eine Verankerung ersehnen. Eine Mitte.
Eine Haltlosigkeit im Innen wie im Außen verspüren.
Die Unsicherheit wächst überall. Konjunkturflaute im entfesselten Kapitalismus.
Laura sucht fahrig nach dem Schlüsselbund in ihrer Umhängetasche. Unzählige Autos auf der stark befahrenen Straße, die sie hastig überquert. Gegenüber die Arbeitsstelle. Laura nimmt nicht den Lift, sondern hetzt die drei Stockwerke zu Fuß hinauf.
Die Rezeptionistin winkt und lächelt. Laura stürmt in die Garderobe und steckt Mantel und Schal in den Spind. Wieder einmal ein paar Minuten zu spät.
Das Herz der Erde pocht, überhöhter Puls, schwerer Atem, alle fünf Kontinente und die Meere im Fieber. Auch Lauras Stirn glüht vor Erschöpfung, während sie vor dem Bildschirm sitzt und sinnlose Zahlen in die Tastatur tippt. Die Dateneingabe, die ihre Existenz sichert, raubt ihr noch den letzten Nerv.

An besonders klaren Sommertagen wanderten wir mit Urgroßvater zu den hoch oben gelegenen Almen, auf denen wir das eine und auch das andere Mal mit frischer, noch kuhkörperwarmer Milch bewirtet wurden. Eine der Sennerinnen war besonders freigiebig, diese besuchten wir öfter. Während Simone ihre Milch gleich in einem Zug aus dem tönernen Becher trank, nahm Urgroßvater langsame, bedächtige Schlucke, dann holte er sein Schweizermesser aus der Innenseite seiner Jackentasche, schnitt das mitgebrachte Schwarzbrot in Scheiben, und teilte es zwischen der Sennerin und uns. Alles was er tat, jede Handbewegung, jeder Schritt, überhaupt jede seiner Bewegungen hatten etwas Gelassenes und gleichzeitig höchst Konzentriertes an sich. Er strahlte stets eine wärmende Ruhe aus und akzeptierte Simones stürmisches Temperament ebenso wie mein schwankendes: Du bist sehr sensibel Laura, bleib wie du bist, du und Simone, bleibt ihr beide so wie ihr seid, so voller Lust aufs Leben.

Eine Antwort suchen. Eine Frage.
Eine Ratlosigkeit im Hier wie im Jetzt empfinden.
Simone wartet schon hinter der gläsernen Eingangstür. Laura sieht ihre Kusine bereits von der Stiege aus, sieht wie sie ruhelos auf und ab geht und dabei immer wieder nach draußen späht.
Ihre Augen bedeckt durch eine dunkle, ovale Sonnenbrille, ihre rotblonden, halblangen Haare zu einem dünnen Zopf gebunden, die Schultern nach vorne gekippt. So zieht sie ungeduldig ihre Kreise im Eingangsbereich, ein Mensch im Käfig, ein Mensch, dessen Zukunft ungewiss.
Lauras Blick streift flüchtig das mit dem Notwendigsten möblierte Doppelzimmer mit seinen beiden weit auseinander stehenden Betten, den beiden Nachtkästchen sowie dem alten Schrank an der weiß gekalkten, bilderlosen Wand.
Sie sieht durch die Gitterstäbe, die vor dem einzigen Fenster angebracht sind, sieht auf den schon baldigen Nachthimmel, der sich bereits durch einen rotgoldenen Streifen unter violetten Haufenwolken ankündigt; sie betrachtet andächtig die mächtige Platane, die - in nur geringer Entfernung verwurzelt - ihre winterlich kahlen Zweige dem dunkelnden Horizont entgegenstreckt.
"Die Medikamente zeigen keinerlei Wirkung", durchbricht Simone das Schweigen. Sie sitzt mit schaukelnden Beinen auf ihrem Bett.
Laura wendet ihren Blick weg vom Fenster und ihrer Kusine zu. Sie lächelt unbestimmt. "Früher, da warst du nach einiger Zeit immer ganz apathisch", antwortet sie endlich und sehr langsam. Die paar Worte sind eine ungeheure Anstrengung für sie.
"Seitdem ich mir den Finger in den Hals stecke, ist das nicht mehr so." (...)